Instrument und Musik der Harfenistin Julie Campiche sind polyphon und polymorph. Die
Schweizerin aus Genf spielt Jazz mit ihrem eigenen Quartett, moderne Kammermusik mit
ihrem Strings Project und komponiert speziell auch Musik für Performances und Filme.
Damit sucht sie mutig und fokussiert nach musikalischem Ausdruck für aktuelle
Gesellschafts-Themen.
Das neue Album UNSPOKEN ist Julie Campiches erstes Soloalbum. Jedes Stück darauf ist
ein musikalisches Portrait einer engagierten Frau oder einer Frauenrechts-Bewegung.
Aus dem Schatten ins Licht
Die erste Inspiration für das Album war Charlotte Bienaimés „Un podcast à soi”, in dem
grundlegende Fragen zu Gender und Feminismus diskutiert werden. "More often than not
in history, 'Anonymous' was a woman" - dieser Satz von Virginia Woolf, der als Motto des
berühmten Radio-Podcasts dient, hat auch bei Julie Campiche Widerhall gefunden. Frauen
eine Stimme zu geben, aber auf eine ganz eigene, künstlerische Art und Weise: Das ist der
rote Faden, der sich durch das Album zieht. UNSPOKEN ist weniger ein feministisches
Manifest als ein kreatives Statement, welches die weibliche Stärke feiert, die durch Engagement und Offenheit gleichzeitig genährt wird. Die Genfer Harfenistin thematisiert das fragile Gleichgewicht von Frauen im Schatten und im Licht der Gesellschaft.
„Es ist die weibliche Stärke und Präsenz, welche die Welt am Laufen hält. 80 % der
Hausarbeit wird von Frauen kostenlos und anonym erledigt. Ich möchte aussergewöhnliche
Frauen feiern, aber auch dieser alltäglichen Stärke einen Platz geben.“ Zu den Persönlichkeiten,
die Julie Campiche inspirieren und deren Stimmen und Taten sie heraufbeschwört,
gehören die Schweizer Künstlerin und Prostituierte Grisélidis Réal, oder Las Patronas, die
mexikanischen Schutzengel, welche Menschen, die sich zur Migration entschlossen haben
und illegal in Güterzüge in Richtung USA stiegen, mit Essen und Wasser versorgen.
Eintauchen und Engagement
Produziert mit der Klarheit und Eigenständigkeit eines Indie-Pop-Albums, kombiniert
UNSPOKEN gekonntes Harfenspiel und Gesang mit subtilem Einsatz von Elektronik und
Effekten, Gesangs- und Sound-Samples. Das Album entfaltet eine reichhaltige Dramaturgie,
die es den Zuhörer*innen ermöglicht, in die Musik einzutauchen und sich gleichzeitig zu
engagieren. Mit Harfe, Spirit, Verstand und ihrer Software und mit ihrer Risikobereitschaft
treibt Julie die wichtige Debatte über das Gleichgewicht der Geschlechter in unserer
Gesellschaft weiter voran. Getreu ihrem Stil und ihrer Haltung wagt sie einen weiteren
künstlerischen Sprung und kreiert neue Klangräume, ohne Protokoll oder Stil-Anweisungen,
um den Stimmen der Frauen konsequent Gehör zu verschaffen. Ihre Live-Shows mit diesem
Programm sind multidisziplinär und integrieren Visuals, die den Bedeutungsraum erweitern
und so einen bewegenden und nachhaltigen Eindruck auf das Publikum hinterlassen.
BIO: Vorwärts gehen und die Dinge verändern
Julie Campiche, die eine klassische Ausbildung genossen hat, entdeckte den Jazz vor
zwanzig Jahren bei einem Big-Band-Auftritt. Fasziniert davon beschloss sie, in diese neue
Welt einzutauchen. Sie war die erste Harfenistin, die an der Haute Ecole de Musique de
Lausanne (HEMU) einen Master-Abschluss in Jazzkomposition und -performance erwarb. Sie
blickt auf eine erfolgreiche Karriere zurück und hat sich auf internationalen Bühnen, auf
denen sie regelmässig tourt, einen Namen gemacht. Sie hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen
erhalten, unter anderem den Schweizer Musikpreis 2025 und eine Fördervereinbarung
der Stadt Genf für den Zeitraum 2024-2027. Das neueste Album ihres
Quartetts wurde beim renommierten deutschen Label Enja veröffentlicht. Die ungewöhnliche
Entwicklung ihrer Karriere, die Wahl eines seltenen Instruments, das sie in speziellen
Registern einsetzt, machen sie zu einer einzigartigen Persönlichkeit, einer inspirierenden
Frau, die ihre Kunst nur im Sinne von Engagement versteht. „Ich kann Kunst nicht losgelöst
von der Gesellschaft sehen. In meinem Ansatz versuche ich, mich aus dem Einzelfall
herauszulösen, um das Universelle zu berühren, Menschen zu verbinden und sie zu
ermutigen, sich in und für unsere Welt zu engagieren.“
Julie Campiche über die Songs:
Anonymous: Dieses Stück kreist um Virginia Woolfs berühmten Satz: “For most of history, Anonymous
was a woman.” Frauen sprechen dieses Zitat – jede in ihrer eigenen Sprache; ein Chor weiblicher
Stimmen, der ein Gefühl von Gemeinschaft entstehen lässt. Stimmen, die die Frauen hinter der
Anonymität sichtbar machen. Stimmen, die uns daran erinnern, dass Frauen keine Minderheit sind,
sondern die Hälfte der Menschheit.
Musikalisch ist das Stück bewusst reduziert, um dem Gesang den vollen Raum zu geben. Es enthält
Beatboxing- und Schlagzeugklänge, die an einen Herzschlag erinnern, sowie einen angespannten
Akkord mit lang gehaltenen Tönen, die allmählich hervortreten. Die Musik bleibt im Hintergrund und
erzeugt eine wachsende Spannung parallel zur Klangkraft des Chors.
Grisélidis Réal: Mutter, Malerin, Schriftstellerin, Prostituierte, international bekannte politische Aktivistin
für die Rechte von Sexarbeiter*innen und zudem Archivarin in diesem Bereich – Grisélidis führte
ein Leben von seltener Intensität. Stets auf der Suche nach Freiheit, scheute sie sich nie davor, die
Bequemlichkeit gesellschaftlicher Konventionen zu stören.
Das Stück basiert auf einem Groove, der aus ikonischen Klängen ihres Lebens aufgebaut ist: das
Surren eines Kopiergeräts für ihre Rolle als Aktivistin, das Klacken von Schritten auf Pflastersteinen für
die Prostitution, das Kratzen eines Bleistifts auf Papier für die Schriftstellerin, Kinderlachen für die
Mutter… Auf dieser Klangbasis webe ich eine musikalische Struktur, die versucht, der Intensität
dieser Frau gerecht zu werden – zwischen dem Aufschrei des Protests, dem stillen Seufzer des
Schmerzes, der Lebenslust und der Erschöpfung eines aufgewühlten Alltags. Die Atmosphäre ist
inspiriert von einer tänzerischen Bewegung, ohne je in reines Entertainment zu kippen.
Andréa Bescond: Tänzerin, Regisseurin, Autorin und Schauspielerin – Andréa stellt ihr gesamtes
künstlerisches Schaffen in den Dienst ihres Aktivismus gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Sie
kämpft dafür, das mediale Schweigen zu brechen und ein System anzuprangern, das Täter schützt.
Musikalisch stützt sich das Stück auf das Ticken der Sekunden – es verkörpert Spannung in all ihren
Formen. Es evoziert zunächst die Angst vor dem unvorhersehbaren Moment, in dem Gewalt geschieht
– aber auch die Gewissheit, dass sie geschehen wird. Der Rhythmus basiert auf Schlag- und
Atemgeräuschen, durchbrochen von plötzlichen Momenten der Stille, die an die Brutalität und
Unvorhersehbarkeit der Taten erinnern. Die Melodie, mit einer speziellen Spieltechnik auf der Harfe
erzeugt, ruft Schreie in Erinnerung. Die Spannung steigt allmählich an und kulminiert in einem
durchgehenden elektronischen Ton – wie ein flaches EKG, ein tragisches Symbol für den Tod, den
solche Gewalt verursachen kann.
Rosa: Rosa hat keinen Nachnamen. Diese Komposition ist eine Hommage an all die Frauen, die im
Schatten unserer Gesellschaft arbeiten. Ihre Arbeit ermöglicht es Frauen in westlichen Gesellschaften,
sich von Haushalt und Kindererziehung zu befreien – ohne die Grundstrukturen unseres sozialen
Gefüges infrage zu stellen.
Musikalisch basiert das Stück auf sich wiederholenden Rhythmen, die eine konstante Spannung
aufbauen. Tiefe und hohe Melodielinien antworten sich im Kontrapunkt, melancholisch gefärbt. In
Schleifen wiederholt und allmählich verstärkt, steigern sie sich, bis sie sich in Verzerrung auflösen – als
Ausdruck der Erschöpfung und der unter der Oberfläche schwelenden Wut.
Las Patronas: Eine Gruppe mexikanischer Frauen, die zentralamerikanischen Migrantinnen helfen,
welche auf Güterzügen in Richtung USA reisen – auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Diese
Frauen bereiten täglich etwa 300 Mahlzeiten zu, die sie in Beuteln den vorbeifahrenden Migrantinnen
zuwerfen. Trotz Schwierigkeiten wie Schikane und Bedrohungen durch Behörden und kriminelle
Gruppen, setzen sie ihre mutige humanitäre Mission fort. Sie sind zu einem Symbol der Hoffnung und
Solidarität für unzählige Migrant*innen aus Mittelamerika geworden.In diesem Stück lasse ich die Harfe beiseite und rezitiere ein Gedicht auf Spanisch – begleitet von
einer Trommel und einem Shruti, einem indischen Akustikinstrument, das lange, vibrierende Drones
erzeugt.
Tarana Burke: Sie rief den Hashtag #MeToo ins Leben, um Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren
haben, Unterstützung und Empowerment zu bieten. Die Bewegung erlangte 2017 weltweite
Aufmerksamkeit, insbesondere als sie von weissen Gemeinschaften aufgegriffen wurde – zuerst im
Zusammenhang mit dem Weinstein-Fall. Das Time Magazine ehrte sie als „Silence Breakers“ des
Jahres 2017, und anerkannte damit, wie eng Geschlecht, Rasse, Herkunft und Sexualität in Fällen von
Unterdrückung miteinander verflochten sind.
Dieses Stück beleuchtet ihre Geschichte und lädt zur Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen
und systemischer Ungleichheit ein. Musikalisch enthält es ein Sample aus einer Rede von Tarana
Burke, deren Worte zum Zusammenhalt aufrufen und daran erinnern, dass in der Einheit Stärke liegt.
Die sich stetig ausdehnende musikalische Struktur ist eine Einladung zu kollektiver Aktion und
gelebter Solidarität.
Maman du ciel: Eine Street-Art-Künstlerin, die sich gegen Inzest und innerfamiliäre Gewalt einsetzt.
Maman du ciel ist eine Mutter, der das Sorgerecht entzogen wurde. Sie kämpft darum, ihre elterlichen
Rechte zurückzuerlangen und ihre 7-jährige Tochter zu schützen, die beim Vater untergebracht
wurde – obwohl gegen ihn eine laufende strafrechtliche Untersuchung wegen Inzests vorliegt.
Um ihrer Tochter zu zeigen, dass sie für sie kämpft, platziert diese Mutter auf dem Schulweg Bilder
von bunten Vögeln, die sie gemeinsam gezeichnet haben.
Musikalisch basiert das Stück auf einer obsessiven Frage: „Why can’t you hear?“ Diese Phrase
entfaltet sich in einer vokalen Polyphonie, in Schleifen, wie ein Schrei, der kein Echo findet. Die Harfe
spielt eine Basslinie, unterlegt mit Polyrhythmik, und schafft ein Gefühl von Unruhe und Instabilität.
Darüber schwebt eine vokale Improvisation, die die Form eines Wiegenlieds streift – fragil,
schwankend –, als wolle sie dennoch schützen, trotz allem.
Zaïna: Dieses Stück ist meine allererste Komposition – ihre Aufnahme ins Album ist hochsymbolisch,
denn sie verkörpert das Wesen der Unschuld. Jede Frau ist – bevor sie eine weibliche Identität
übernimmt und in eine gesellschaftlich konstruierte Rolle tritt – zunächst ein Mensch. Diese Idee
erinnert direkt an Simone de Beauvoirs berühmten Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird
es.“ – ein Hinweis darauf, wie stark das Weibliche in unserer Gesellschaft sozial konstruiert ist.
Musikalisch entfaltet sich dieses Stück rein akustisch, ohne elektronische Mittel. Es entsteht buchstäblich
aus der Stille heraus, baut sich allmählich um eine Improvisation auf und erreicht ihren
Höhepunkt mit der auf der Harfe gespielten und gesungenen Melodie. Diese Entwicklung steht
sinnbildlich für die Zerbrechlichkeit und zugleich die Kraft der Unschuld – und fängt ihre emotionale
Tiefe und Vielschichtigkeit ein.
1Anonymous02:56
Musik: Julie Campiche
2Grisélidis Réal04:32
Musik: Julie Campiche
3Rosa05:10
Musik: Julie Campiche
4Andréa Bescond03:37
Musik: Julie Campiche
5Las Patronas03:24
Musik: Julie Campiche
6Tarana Burke04:50
Musik: Julie Campiche
7Maman Du Ciel04:01
Musik: Julie Campiche
8Zaïna05:55
Musik: Julie Campiche