Was unterscheidet Klang von Stille? Stellt Stille nicht die Gesamtheit aller Klänge dar, so wie Weiß die Summe aller Farben ist? Klänge entstehen nicht aus dem Nichts und können auch nicht verschwinden. Sie warten in der Unendlichkeit von Raum und Zeit darauf, gehört zu werden. Das mag so belanglos wie esoterisch klingen, ist aber weder das eine noch das andere. Denn Klänge sind ein Aggregatzustand der Ewigkeit. Sie lassen sich ebenso wenig erfinden wie Farben, Richtungen oder Bewegungen. Sie folgen den Gesetzen der Schwingung in der Natur und sind das Produkt einer Kette von Energieübertragungen, die seit Äonen stattfindet.
Was genau passiert also, wenn man Musik in die Welt setzt, Klang und Rhythmus, Melodien und Harmonien? Der Klang wird nicht in der Stille positioniert, sondern genau das Gegenteil passiert. Eine bereits existierende Abfolge von Klangzuständen, die wir Musik nennen, wird aus dem Mantel der tosenden Stille befreit, der sie umgibt, so wie Michelangelo seinen David erst aus einem riesigen Block Carrara-Marmor herausarbeiten musste, bevor er ihn der Welt in seiner ganzen Vollkommenheit zugänglich machen konnte. Die Schönheit der Musik erhebt sich über den Trümmern der Stille. Schöpfung ist nichts anderes als die Offenbarung der Vollkommenheit. Was aber haben diese Überlegungen mit der Musik des Posaunisten Samuel Blaser, des Pianisten Tilman Günther, des Bassisten Peter Bockius und des Schlagzeugers Lucien Bovet zu tun, die wir auf „Rêverie“ hören? Was unterscheidet diese Sammlung von Liedern von Millionen anderer Alben, die heute über soziale Plattformen für jeden frei zugänglich sind? Dieses Quartett aus zwei Schweizern und zwei Deutschen zeigt uns das Urprinzip echter Schöpfung. Es wird etwas initiiert, das bereits existiert, ohne sich unserer Wahrnehmung offenbart zu haben. Genau diese Musiker sind es, die dem Gesetz folgen, genau diese Musik hörbar zu machen, ohne Abweichung. Warum sonst sollte sich der Posaunist Samuel Blaser im Stück „Sarabande“ selbst ans Klavier setzen? Er unterwirft sich dem Drang eines inneren Bedürfnisses, das wir freien Willen nennen.
Alle vier Musiker haben einzeln das Zeug dazu, Revolutionen auszulösen und Berge zu versetzen, aber darum geht es hier nicht. Die Selbstlosigkeit des Zusammenspiels offenbart Perspektiven und Horizonte, die noch nie zuvor gesehen oder gehört wurden. Darin liegt das, was nur ein Paradox zu sein scheint. Denn die Frage, was Musik überhaupt zu „Musik“ macht, stellt sich immer wieder neu. Wie unterscheidet sich ein Solo auf der Posaune oder dem Klavier vom scheinbar unvoreingenommenen Zwitschern eines Vogels, wie unterscheidet sich eine Symphonie von einem Gewitter? Wer würde ernsthaft behaupten, dass der betreffende Vogel nicht auch über diesen kreativen Orientierungssinn verfügt, dessen Monopol wir Menschen so gerne für uns beanspruchen würden? Ist es nicht in jedem Fall einfach der Wunsch, wahrgenommen zu werden?
Nein, Blaser, Günther, Bockius und Bovet sind keine Vögel. Aber indem sie sich der Unausweichlichkeit ihres künstlerischen Genies hingeben, gelingt es ihnen, wie den gefiederten Wesen, einen Zufluchtsort zu schaffen, in den man mit offenen Ohren eintreten und eins mit der Musik selbst werden kann. Ihre Lieder sind originell, ihr kollektiver Klang ist einzigartig, und doch setzen sie etwas für den Moment frei, das sich wiederum ins Unendliche ausdehnt, das schon immer da zu sein scheint, aber noch nicht manifestiert wurde. Sind sie es, die die Musik auf „Rêverie“ spielen? Oder nutzt die Musik sie umgekehrt, um den Aggregatzustand vom Ewigen zum Momentanen zu verändern? Um nichts anderes geht es. Anders gefragt: Finden die Musiker die Melodien, oder suchen die Melodien nach den richtigen Konfigurationen, um sich ein für alle Mal aus ihrem Zehntausende von Jahren alten Kokon zu befreien? Die Antwort (und „Rêverie“ macht dies überdeutlich) liegt allein in der Musik selbst.
Wolf Kampmann,
September 2024
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